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Viele hätten von Europa mehr erwartet

Bilal Baltaci

Was denken Sie über die Karikatur, die in den Salzburger Nachrichten veröffentlicht wurde?

Professor Thomas Bauer: Die Flüchtlingskrise ist natürlich ein Phänomen, auf das Europa nicht in der Weise vorbereitet war, wie man es sich jetzt wünschen würde. Es hat an europaweiten Krisen- plänen gefehlt. Es hat aber auch bisher an dem Diskurs gefehlt. Die wechselseitige, transkulturelle Aufmerksam- keit in Bezug auf die Türkei ist versäumt worden. Es gibt in allen europäischen Ländern recht starke rechts-orientierte bis rechtsextreme Strömungen, die ein sehr konservatives Identitätsbild von den Nationalstaaten und von Europa haben, noch dazu mit diesem im Streit liegen. Und das Ganze ist ein sehr komplexes Gemenge, in dem auch immer wieder relativ radikale Stimmen laut werden, auch aufgrund des Flüchtlingsthemas, welches Europa am falschen Fuß erwischt hat. Europa ist noch immer nicht hinreichend vorbereitet.

War es eine Überraschung für Sie?

Für mich war das keine große Überraschung, wie in Europa reagiert wurde. Europa versucht auf der Basis der Unterschiedlichkeit ein einheitliches Gesellschaftsgebilde zu machen. Das ist ein Prozess, der noch lange nicht fertig ist. Man sieht das ja im Gespräch mit der Türkei und auch mit anderen Gesellschaften, die andere Kulturen reprä- sentieren. Da wird es irrsinnig schwierig, weil selbst die Unterschiedlichkeit innerhalb Europa nicht assimiliert ist. Interessant ist jetzt allerdings schon, dass die Türkei in das Blickfeld Europas rückt, weil man versucht die Flüchtlings- welle anzuhalten, zu verringern, indem man politische Geschäfte mit der Türkei macht. Welche Nutzen haben die beiden Seiten von diesem Geschäft? Die Vorteile für die Türkei sind, dass Europa nun damit konfrontiert ist, der Türkei gegenüber Vertrauen aufzu- bauen, das so bisher nicht da war. Jetzt, wo die Not da ist, wird ein Partner gebraucht, um die eigene Not zu verrin- gern. Und die Frage stellt sich: Wieso haben wir der Türkei bisher nicht in dem Maß vertraut? Nun ist zu erwarten und zu hoffen, dass sich neue Muster der Kommunikation, neue Muster der gegenseitigen Einschätzung und der ge- genseitigen Beobachtung, bilden werden. In diesem Sinne, denke ich, ist es eine gute Herausforderung für Europa zu wissen, dass es Situationen gibt, die es nicht alleine bewältigen kann, weil sie eine größere Zusammenarbeit brauchen. Dennoch: Das Verhältnis zwischen Europa und der Türkei hätte man längst reparieren können. Man hätte nicht warten müssen, bis es so schwierig wird.

Hatte man nicht schon ein gutes Verhältnis zwischen der EU und der Türkei?

Ich glaube nicht, dass es ein gutes Verhältnis war, sondern eher eine freundliche Distanz. Es hat wenig Anlass gege- ben, diese Distanz zu überwinden. Die Türkei ist das letzte Mal zum Thema geworden, als Erdogan für Wahlwerbung hierher kam und ziemlich großmächtig aufgetreten ist, und gewissermaßen Österreich und Deutschland zum Teil der Türkei erklärt hat. Da wurde nochmals deutlich, dass es viele ungeklärte Themen zwischen der Türkei und Eur- opa gibt, solche, die weniger mit der Politik, sondern eher mit der Kultur zu tun haben. In Europa herrscht immer noch eine relativ große Kulturangs;. nicht nur der Türkei gegenüber, sondern auch gegenüber anderen fremden Kulturen ist Europa damit überfordert die eigene Diversi- tät aufzuarbeiten.

Hat diese Annäherung nichts mit der Flüchtlingskrise zu tun?

Für Europa war klar: Die Türkei muss das Flüchtlingsthema seriös behandeln und darf eine Türkei-Europa-Politik nicht auf dem Rücken der Flüchtlinge machen, da Europa davon abhängig ist, wie gut die Türkei mit den Flüchtlin- gen umgeht.

Sind die europäischen Werte so nichtig, dass man mit einer solchen Bedrohung Erfolg hat?

Nein, Europa ist nicht schwach, aber es befindet sich immer noch im Aufbau und in Entwicklung. Es hat viele Problemthemen, so zum Beispiel das Thema Identität oder Europabewusstsein, die noch nicht hinreichend bewältigt sind. Für viele Menschen ist Europa eine Administrations- gesellschaft und nicht eine Kulturgesellschaft. Natürlich hätten Viele von Europa mehr erwartet.


Viele Türken haben die Zukunft auch anders erwartet und verlieren deswegen den Glauben an eine demokratische Türkei in der EU.


Solange sich Gesellschaften nicht bedroht fühlen, haben sie gewissermaßen eine relativ assimilierte und augen- scheinliche Ordnung. Unter der Bedingung einer Bedro- hung geht es dann um die Grundlagen und da merkt man, dass sie nicht genug verankert sind. Ich habe kein gutes Gefühl, wenn auf der Basis des derzeitigen Problems solche Geschäfte gemacht werden. Beide Seiten schwin- deln über die eigentliche Problematik hinweg, nämlich über die Problematik, dass ein Verhältnis zur Türkei umgekehrt auch nicht erkauft werden kann, gerade jetzt unter diesen Bedingungen. Nur weil wir ein Problem gemeinsam über das Medium Geld bewältigt haben, ist das Verhältnis zwischen Europa und der Türkei noch lange nicht gut. Das ist nicht der Weg einer inneren Bewältigung, sondern der einer äußeren Notwendigkeit.


Wie sind die Reaktionen in Europa?

In den sozialen Netzwerken wurde der Deal ziemlich stark diskutiert. Da spürt man sehr starken Widerspruch. Einige politische Gruppierungen sagen klar, dass man sich eine Kooperation, die auf Vertrauen aufbauen soll, nicht einfach so erkaufen kann. Ich glaube aber, dass die Vereinbarung mit der Türkei durchaus gute Folgen haben wird. Über diesen Mechanismus wird man sich überlegen müssen, wie man mit der Türkei in Zukunft umgehen wird. Es ist eine Herausforderung, die Vertrauensfrage zu beantworten und den Deal einzuhalten. Man wird sich auch überlegen müssen die EU weiter zu öffnen, zumal im Zusammenhang mit der Vereinbarung zum internati- onalen Flüchtlingsmanagement ein neues Kapitel für eine weitere Annäherung eröffnet worden ist.

Was passiert mit diesem Verhältnis, wenn die Syrienkrise überwunden wird und keine Flüchtlinge mehr kommen?

Ich glaube nicht, dass das Verhältnis dann vorbei ist. Ich rechne mit einem Nachhltigkeitsmoment. Die nächste Welle, die uns bevorsteht, ist Afrika. Die Syrienkrise ist ein Lernprozess für uns alle. Die Lage wird mit Sicherheit schwieriger werden als sie jetzt schon ist. Wir dürfen nicht übersehen, dass sich der politische Kommunikationspro- zess von den offiziellen Medien hin zu den Social Media verlagert hat. Und in Afrika wartet man auch auf den geeigneten Augenblick um auszubrechen. Man hat aus dieser Situation gelernt. Über kurz oder lang wird man mit dieser Welle konfrontiert sein. Umso wichtiger ist es aus der momentanen Situation zu lernen. Der Lernprozess muss gemeinsam bewältigt werden. Beide Länder sind von der Problematik unterschiedlich betroffen. Das ist ein Fall, der uns über die Normalität hinaus beansprucht hat und wo wir merken, dass wir andere Strukturen, andere Kulturen, ein anderes Verständnis und andere Beziehungsmuster brauchen.

Wird Europa dieses Problem bewältigen, indem es sagt: 3 Millionen Euro nach Lybien und 3 Millionen Euro nach Marokko?

Das kann nicht das Modell sein. Da gibt es einige ande- re Muster. Da gäbe es zum Beispiel das Muster Merkels, offen zu bleiben und zu sagen: Migration ist kein Problem, sondern ein Pfeiler Europas und der europäischen Gesell- schaft. Das konservative Muster wäre, zu bleiben wie man ist, und sich von allem anderen abzugrenzen. In Zukunft wird es zwischen diesen beiden Lagern einen größeren Diskurs geben müssen. Welches Lager stärker ist und welches sich durchsetzen wird, ist aus derzeitiger Sicht schwer zu sagen.

Die rechtsradikalen und die rechtspopulistischen Parteien gewinnen jeden Tag Anhänger. Kann man sagen, dass sie sich durchsetzen werden hinsichtlich des EU-Beitritts der Türkei?

Nein. In Bezug auf die Türkei entsteht durch die derzeitige politische Lage sogar eine Vorteilssituation. Denn wenn sich Europa für Diversität entscheidet, dann wird es ein leichterer Prozess sein, die Türkei an Europa anzuschließen, als sie auszuschließen. Insofern sind das Stufen, die der Türkei den Beitritt nur erleichtern werden.

Wird diese Abmachung das Problem lösen?

Nein, es löst weder das Flüchtlingsproblem, noch das Identitätsproblem der europäischen Gesellschaft. Es ist immer noch eine Herausforderung. Die Lösung kann kein Halbschritt sein, in welchem wir das Problem einfach abgeben, Geld zahlen und uns nicht mehr darum kümmern. Das ist keine Lösung für Themen der Gesellschaftskultur.



Thomas A. Bauer wurde am 19. Jänner 1945 in Dießen am Ammersee, ein Markt im oberbayerischen Landkreis Landsberg am Lech, geboren. Er studierte Philosophie und Theologie an der Katholischen Universität Eichstätt, unterrichtet seit 1993 an der Universität Wien.

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